Heinz Brasch
Systemischer Coach und 
Haltungsentwickler
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Die Macht der Fantasie in unseren Entscheidungen

03/02/2025
Heinz Brasch

Wir treffen pro Tag ca. 35.000 Entscheidungen – mal bewusst, mal unbewusst, mal impulsiv, mal überlegt. Doch was steckt hinter dem Prozess des Entscheidens? Ein Blick auf das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Fantasie zeigt, dass unsere Entscheidungen weit mehr sind als reine Kalkulationen. Sie entspringen einer komplexen Wechselwirkung zwischen dem, was unsere Sinne erfassen, und dem, was unser Geist in Form von Vorstellungen ergänzt und interpretiert.

Die Rolle der Wahrnehmung und Fantasie

Unsere Sinne nehmen täglich eine Fülle von Informationen auf – in der Bahn, beim Spaziergang oder beim Warten am Bahnhof. Doch die Realität, die wir erleben, ist nicht das direkte Abbild der Welt. Unser Gehirn arbeitet aktiv daran, unvollständige oder unscharfe Eindrücke zu einem stimmigen Gesamtbild zu verknüpfen und zu stabilisieren. Hier übernimmt die Fantasie eine zentrale Rolle: Sie ergänzt, interpretiert und strukturiert sensorische Daten. Wenn wir uns vorstellen, wie eine erwartete Person aussieht oder sich verhält, hilft uns diese gedankliche Vorwegnahme nicht nur dabei, sie in der Menge zu erkennen, sondern auch darauf zu reagieren. So wird aus einer einfachen Wahrnehmung eine bewusste Entscheidung.

Somit dient Fantasie nicht nur zur Ergänzung der Realität, sondern fungiert auch als Antizipationsmaschine. Unser Geist simuliert ständig Zukunftsszenarien: Stellen wir uns vor, dass es regnet, stellen wir uns automatisch vor wie es sicht anfühlt nass zu sein, bei Kälte und Nässe zu einem Ort zum Anderen zu gelangen und entscheiden uns dafür, einen Schirm mitzunehmen. Solche unbewussten Simulationen sind essenziell, da sie uns helfen, Risiken einzuschätzen und unser Verhalten daran anzupassen. Beispielsweise visualisieren wir beim Überqueren einer Straße, wie sich der Verkehr entwickelt, oder ein Sportler stellt sich vor, wie ein Wettkampf abläuft, um seine Strategie zu optimieren. In Gedanken durchspielen wir alternative Handlungen, erleben die potenzielle Konsequenzen (im hier und jetzt) und lernen, was sich richtig anfühlt und was nicht.

Die Verbindung zwischen Fantasie, Emotionen und Empathie

Unsere Vorstellungskraft beeinflusst nicht nur unsere Entscheidungen, sondern auch unsere Fähigkeit zur Empathie. Indem wir uns in die Gedanken- und Gefühlswelt anderer hineinversetzen, verstehen wir deren Handeln besser und bauen eine tiefere Verbindung zu ihnen auf. Fantasie ruft eine Vielzahl von Emotionen hervor – Freude, Mitgefühl, Besorgnis oder sogar Angst. Wenn wir uns beispielsweise in die Lage eines Freundes versetzen, der eine gute Nachricht erhält, empfinden wir seine Freude mit. Ebenso können wir durch das Vorstellen einer schwierigen Situation, die eine andere Person durchlebt, Traurigkeit verspüren und uns zu unterstützendem Handeln motiviert fühlen. Wissenschaftliche Erkenntnisse zum „Spiegelneuronen-System1“ zeigen, dass unser Gehirn in der Lage ist, Emotionen anderer nachzuempfinden, was sich wiederum auch auf unser Entscheidungsverhalten auswirkt.

Fantasie als Coaching-Instrument

Gerade weil Fantasie eine Brücke zwischen inneren Vorstellungen und realen Entscheidungen bildet, wird sie auch gezielt im Coaching genutzt. Methoden wie die Wunderfrage („Stellen Sie sich vor, über Nacht wäre Ihr Problem gelöst – woran würden Sie es erkennen?“) oder "Was wäre wenn"-Fragen helfen Klienten, neue Perspektiven zu erschließen und die Fantasie des Coachee zu aktivieren. Solche gedanklichen Experimente durchbrechen festgefahrene Denkmuster, entdecken alternative Lösungswege und fördern Mut zur Veränderung. Denn eine fantasierte Episorde wird im Körper durchlebt und erfahren. Durch das spielerische Erkunden von Zukunftsszenarien können somit innere Blockaden gelöst und neue Entscheidungsstrategien in "sicherer Umgebung" erprobt werden. 

Die Schattenseite der Fantasie

Nachdem wir gesehen haben, wie Fantasie Empathie fördert, kreative Lösungen ermöglicht und zur Vorbereitung auf Herausforderungen beiträgt, wird deutlich, welch wertvolle Rolle sie spielt. Doch Fantasie hat auch ihre Schattenseiten. Sie kann uns in die Irre führen, wenn sie nicht mehr von der Realität abgegrenzt wird. Ein Übermaß an Wunschvorstellungen kann dazu führen, dass realistische Einschätzungen verloren gehen und Entscheidungen auf unrealistischen Annahmen basieren. Dies zeigt sich etwa bei Menschen, die sich in Tagträume flüchten und dadurch Herausforderungen im realen Leben vermeiden.

Eine Studie2 der Harvard University mit 2250 Freiwilligen, durchgeführt von Matthew Killingsworth und Daniel Gilbert, ergab, dass die Probanden etwa die Hälfte ihrer Wachzeit mit Tagträumen verbrachten und nicht zufriedenheit fördert. Übersteigerte Erwartungshaltungen können zu Enttäuschungen führen und psychische Belastungen nach sich ziehen. Es liegt daher an uns, einen gesunden Umgang mit unserer Vorstellungskraft zu pflegen – sie als wertvolles Werkzeug zu nutzen, ohne uns von ihr dominieren zu lassen.

Fantasie als Schlüssel bewusster Entscheidungen

Im Spannungsfeld zwischen Realität und der grenzenlosen Welt der Fantasie liegt der Schlüssel zu bewussten und reflektierten Entscheidungen. Die Fähigkeit, in Gedanken Alternativen zu erproben und mögliche Szenarien durchzuspielen, erweitert unseren Horizont und bereichert unser Leben. Wie Albert Einstein einst betonte, ist Vorstellungskraft oft wichtiger als reines Wissen, denn sie erlaubt uns, über das Bekannte hinauszugehen und neue Wege zu entdecken.

Letztlich zeigt sich, dass eine reflektierte Nutzung unserer Vorstellungskraft nicht nur individuelle Entscheidungen verbessert, sondern auch zu kreativen und innovativen Lösungen führt. So wird jede Entscheidung – sei sie noch so klein – zu einem bewussten Schritt in der Gestaltung unserer eigenen Realität.

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Quellenverweise:

  1. https://www.spektrum.de/news/was-steckt-wirklich-hinter-den-spiegelneuronen/1991029 ↩︎
  2. https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/21071660/ ↩︎
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