Heinz Brasch
Systemischer Coach und 
Haltungsentwickler
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Warum Feedback kein Abbild der Realität ist

11/01/2025
Heinz Brasch

Feedback ist ein mächtiges Werkzeug – wenn es richtig eingesetzt wird. Doch oft erleben wir, dass Rückmeldungen falsch verstanden, unterschiedlich interpretiert oder gar abgelehnt werden. Woran liegt das? Die Antwort könnte sich in zwei faszinierenden Konzepten aus der Neurowissenschaft: Predictive Coding und multistabile Wahrnehmung finden.

Wie unser Gehirn Feedback „vorhersagt“

Laut der Predictive-Coding-Theorie ist unser Gehirn kein passiver Beobachter der Welt. Stattdessen arbeitet es wie ein Vorhersagemodell und trifft eine Vorhersage, was passieren wird, basierend auf unseren Erfahrungen, Erwartungen und Annahmen. Neue Informationen – sei es ein Lob oder eine Kritik – werden mit diesen Vorhersagen abgeglichen. Stimmen sie nicht überein, passen wir entweder unser Modell an oder ignorieren die Information, um kognitive Dissonanz zu vermeiden.

Feedback-Empfänger:innen hören oft nicht, was tatsächlich gesagt wird, sondern das, was sie erwarten. Wer häufig negative Rückmeldungen erhalten hat, wird möglicherweise auch konstruktive Kritik als Angriff wahrnehmen. Dieses Phänomen ist nicht böse Absicht, sondern ein natürlicher Prozess, der unser aller Wahrnehmung prägt.

Mehrdeutigkeit und die Kunst des Perspektivwechsels

Kippbild, dass je nach Fokus eine junge Frau oder alte Dame darstellt

Das Konzept einer multistabilen Wahrnehmung zeigt, dass unser Gehirn zwischen verschiedenen Deutungen hin- und herspringen kann, wenn ein Reiz mehrdeutig ist. Ein bekanntes Beispiel sind Kippbilder, bei denen wir entweder eine junge oder ältere Person sehen – aber nie beides gleichzeitig. Diese Flexibilität ist ein Beweis dafür, dass Wahrnehmung keine objektive Abbildung der Realität ist, sondern von Aufmerksamkeit, Vorerfahrungen und Kontext abhängt.

Übertragen auf Feedback bedeutet das: Dieselbe Rückmeldung kann mehrere Perspektiven enthalten und von Personen völlig unterschiedlich interpretiert werden. Eine Aussage wie „Das kannst du noch verbessern“ kann motivierend oder entmutigend wirken, je nachdem, welche Perspektive man einnimmt. Feedback ist also immer mehrdeutig – und das ist völlig normal.

Ambiguität als Chance: Feedback bewusst gestalten

Wenn klar wird, dass Wahrnehmung subjektiv und vieldeutig ist, kann Feedback gezielter gestalten und empfangen werden:

  1. Vorannahmen hinterfragen
    Sowohl Sender:innen als auch Empfänger:innen sollten sich ihrer Erwartungen bewusst sein. Eine gute Frage lautet: „Reagiere ich auf das, was gesagt wurde, oder auf das, was ich erwartet habe zu hören?“
  2. Zum Perspektivwechsel einladen
    Wie bei einem Kippbild hilft es, aktiv nach alternativen Interpretationen zu suchen. Feedbackgeber:innen können fragen: „Wie hast du das verstanden?“ und so Missverständnisse aufdecken.
  3. Klarheit schaffen
    Ambiguität lässt sich nicht vollständig eliminieren, aber durch klare, spezifische Sprache können Missverständnisse reduziert werden. Statt „Das war nicht optimal“ könnte man sagen: „Ich habe gesehen, dass du den Bericht erst zehn Minuten vor der Deadline abgegeben hast. Wie können wir das in Zukunft besser planen?“

Feedback als Werkzeug für gemeinsames Lernen

Indem wir Feedback nicht als eine „Wahrheit“, sondern als einen Raum von Perspektiven und Möglichkeiten verstehen, schaffen wir Potential für Entwicklung. Predictive Coding erinnert uns daran, dass unsere Wahrnehmung von Erwartungen geprägt ist, während multistabile Wahrnehmung uns lehrt, dass es oft mehrere „richtige“ Sichtweisen gibt.

Ambiguität im Feedback ist also kein Problem, sondern eine Einladung zum Dialog. Wer diese Vieldeutigkeit erkennt und aktiv adressiert, kann nicht nur Missverständnisse vermeiden, sondern eine Kultur des gegenseitigen Verstehens und Lernens schaffen.

Der Schlüssel liegt im bewussten Umgang mit der Tatsache, dass jede:r die Welt ein wenig anders sieht.

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